O.J., me and TV…

Produktplatzierung:

https://en.wikipedia.org/wiki/O.J.:_Made_in_America
http://www.arte.tv/de/videos/071429-001-A/o-j-simpson-made-in-america-1-5
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/arte-zeigt-die-epische-doku-o-j-made-in-america-15094603.html

Ich habe noch nicht alle Teile ganz gesehen…
Kinder, Gäste, kochen, Semesterende, Abrechnungen. Wer kann als Künstler und family animal (und manchmal Mensch) zwei Abende fernsehen?
Egal.
Die seit langem sehenswerteste Doku – auch wenn sie einen Oskar gewonnen hat. (Immer schön skeptisch bleiben gegenüber Ehrungen!)
Hier ist die Zentralfigur so schillernd und so ungewöhnlich…
und so verwoben mit Zeitgeschichte und persönlichem Drama.

Ich erzähle hier nicht die Geschichte von Orenthal James Simpson, nicht die Pointen.
Die geneigten Adressaten gucken sich die Doku an, oder zappen sich durch. Man erwischt immer einen interessanten Punkt. Belohnt wird, wer das instabile Sommerwetter 2017 nutzt und komplett guckt.
Geboten wird: Hochspannung trotz epischer Länge. Und Erkenntnisgewinn…

O.J., me and TV…

Ich wusste nichts, absolut nichts über O.J. Simpson als ich nach Los Angeles kam.
Das war 1992.
Auch über Rodney King wusste ich nichts, bzw. nicht viel.
Ich kam im April in die Stadt mit dem zweiten Jahresstipendium, das vom Berliner Senat für Pasadena/LosAngeles vergeben wurde, gekoppelt an einen Lehrauftrag am Art Center College of Design, wo damals neben vielen anderen auch Mike Kelley und Steven Prina lehrten. Diesen Lehrauftrag wollte ich ablehnen, weil ich mir in Dresden nach dem Diplom an der HfbK geschworen hatte, nie wieder eine Schule zu betreten. NIE WIEDER!

Es gibt ein tiefes Trauma in meiner Familie mit Mobilität. Man fährt wie besessen im Hause Gabriel oder verweigert. Automobilität verweigerte ich. Lange. Freizügige andere wurde mir von staatswegen verweigert. Beides hat Auswirkungen auf den merkwürdig randständigen Blick, mit dem ich in die zu schildernden Ereignisse gerieht.
Ich kam nach Los Angeles als noch relativ frisch entlassene DDR-Insassin. Die Rekonstruktion sagt: Ich bin am 13.4.1992 nach Los Angeles geflogen und bin dort vom ersten Stipendiaten, dem Künstler Gero Gries mit dessen von mir zwei Wochen später erworbenen Cadillac in Empfang genommen worden. Ein Fahrzeug, das im Laufe des Jahres noch viele Abenteuer für mich bereithielt…
Ich übernachtete zunächst im San Gabriel Motel, 215 Valley Boulevard in Pasadena. Ohne TV. Ich umschlich täglich die HERTZ-Autovermietung, ohne mich hinein zu trauen. Man muss mich dort schon gesehen haben. Ich fühlte mich zunehmend unter Druck und beobachtet. Außerdem autolos quasi amputiert in einer Stadt, deren Los Angeles River längst ein betonierter Kanal mit veränderter Wegführung war und der eigentliche Verlauf nunmehr ein Freeway. 710. Verkehrsfluss mit Staustufen.
Am 29.4.1992, einem Mittwoch, nahm ich allen Mut zusammen und zeigte meinen schon jahrealten Führerschein, mit dem ich bisher nur einen Trabant zu Schrott gefahren hatte, meinte, mit dem Mut der Verzweiflung, ich wäre bisher nur „gear stick“ gefahren und kenne mich mit „automatic“ nicht aus. Vielsagende Blicke des Tresenpersonals. Ein Mitarbeiter begleitete mich nach den Formalien zum roten Kleinwagen und erklärte mir geduldig: Hier ist drive, da gehts nach hinten, hier ist ein Pedal fürs Gas, hier eins fürs Bremsen. Hektische-Flecken-else probiert und tut so, als hätte sie es verstanden.
Ich kurve langsam vom Hof und fahre erstmal ums Eck. Halte an und entwickle STOLZ. Hey! Ich bin 30 und in Los Angeles und… habe es geschafft, ein Auto zu mieten! Das Eingeständnis, daß jeder Trottel dazu schon mit 18 in der Lage wäre, lasse ich nicht zu und fahre Kreise. Komme immer wieder bei HERTZ vorbei… Man grinst dort sehr und stößt sich gegenseitig in die Rippen. Ich sehe es. Egal. Die Kreise werden größer. Ich schalte das Radio an… Musik. Super. Kris Kross: „Jump, Jump“. Die Jungs, die die Rückseite der Hosen vorn hatten, One Hit Wonder. Der eine Chris ist seit 2013 tot. Krass! Egal. Gut, ich hab 1992 eine Stadt zu erobern. Sunset Boulevard Silverlake. Erster Stop: Ein Alternativladen mit nettem Hippietrödel. Ich kaufe eine rote Mütze und eine mit einem roten Kreuz. Eine Frau stürmt den Laden, redet mit der Verkäuferin, aufgeregt. Ich versteh kein Wort. Aber: Durch den Laden geht eine Schockwelle. Es muss etwas sehr Außergewöhnliches vorgefallen sein. Ich denke: so fühlt sich wohl ein Erdbeben an…
Hier war es ein „socialquake“, mit dem ich zunächst nichts zutun hatte.
Ich wusste nichts davon, daß die vier Polizisten, drei weiße, ein Latino, die Rodney King ein Jahr zuvor zusammengeschlagen hatten, was von einem Anwohner zufällig gefilmt worden war, was wiederum als der erste durch einen Amateur mitgeschnittene Beweis der Gewalt gegen Schwarze in die Geschichte einging, gerade im Simi Valley freigesprochen worden waren…
Ich zahle zwei Mützen.
Und übe weiter Autofahren. Sunset Boulevard, Boulevard der Dämmerung… weiter. Nächster Stop: Nicht Radio Shack, aber irgendein Electronicding. Wollte ja einen Fernseher, vorher noch ein Faxgerät. Fakt ist: Eine Wand von Fernsehern im Laden mit mittlerweile LiveÜbertragung… Ich frage: „Was ist das denn?“ Der Faxverkäufer: „Paar junge Leute, die Blödsinn machen.“ Noch kein Fax gekauft. Weiter fahren üben. Radio: „…There is some violence going on between Olympic and Normandie.“ Normandie klingt nach Naziüberwältigung, Olympic irgendwie athletisch und violence für mich mit meinem mageren Englisch nach Veilchen! Also vielleicht ein Biomarkt oder so…? Jedenfalls fahr ich genau dort hin.

Am ersten Tag der L.A.-Riots übte ich Autofahren…
In South Central!
Wo sonst.

Es rannten Leute hier- und dorthin… Sie hatten auffallend viele Faxgeräte und Fernseher geschultert. Bloß niemanden überfahren.
Mir reichte das für diesen Tag und ich fuhr ins Hotel. War in meinem Zimmer. Das war hübsch. Ich hatte kein TV. Ich hörte aus der Lobby: „Oh my god. The gas station! It’s expolding!“ Ein schwer angetrunkener Poc, wie ich – angeblich respektvoll – Menschen nennen soll, die eine pigmentiertere Hautfarbe haben als beispielsweise ich, ein People of colour (klingt das nicht noch zynisch verlogener als „schwarz“?) kam ins Zimmer, küsste mich ungewollt und meinte, er möge fette Frauen wie mich und heute sei die Nacht… Ich verwies auf meinen Ehering und darauf, daß heute gewiss nicht „die Nacht“ sei… Es gab eine Rangelei. Ich konnte Poc wieder auf den Flur schieben und die Tür verriegeln. Es ging noch lange laut zu da draußen. Ich wollte mich gewiss nicht mehr dazu setzen…
Die Riots gingen noch drei Tage weiter. Curfew. Nie habe ich besser gelaunte Menschen brav in der Schlange stehen sehen vor dem Liqourstore, sich angeregt unterhaltend, um Bier zu kaufen, bevor die Ausgangssperre die (meisten) Leute in die eigenen vier Wände zwang, gern in Gesellschaft, um vor dem Fernseher den Fortgang der Ereignisse zu verfolgen. Draußen tobte Poc. Natürlich im Kern auch aus berechtigter Empörung. Drinnen: Je näher die Ausschreitungen, umso kribbliger! Ich hatte das Gefühl: Erst, wenn es warm wird an den Füßen, weil das eigene Haus angezündet wurde und man die Bestätigung hat via TV, findet der Thrill seinen Höhepunkt.

Die mediale Aufmerksamkeit ist Fluch und Segen zugleich. Die 15 Minuten Ruhm, die jedem Menschen im Leben mindestens einmal erreichbares Ziel seien auf dem Markt der Aufmerksamkeit, wurden durch Andy Warhol Legende. Geprägt hat diesen Ausdruck Marshall McLuhan…
Die Selbstermächtigung durch erschwingliche Bewegtbildaufnahmegeräte, machte damals die L.A.Riots möglich, weil sich nicht vertuschen ließ, was dem vorbestraften und angesoffen durch Los Angeles vor der Polizei fliehenden Rodney King unverhältnismäßig angetan wurde. Und die ungerechten Freisprüche brachten einen aufgeheizten Boden zum explodieren. Der Begriff vom „globalen Dorf“ stammt ebenfalls von Marshall McLuhan,1962! Im Dorf halten Menschen im besten Fall zusammen und übernehmen Verantwortung, ziehen aber vorsichtig die Gardinen beiseite, wenn ein Fremder die Straße bertritt. Im Jahr 2017 befinden wir uns längst im Stadium der Selbstüberwachung, der ständigen Skepsis uns selbst gegenüber. In der Folge ziehen wir heute lieber die Gardinen grundsätzlich zu und uns zurück in Echokammern und Filterblasen, die uns in dem bestätigen, was wir zu wissen meinen. Je überzeugter wir eine Meinung vertreten, umso mehr Deutungshoheit gewinnen wir im Kreis Gleichgesinnter…

1994 war ich wieder länger in Los Angeles und diesmal tatsächlich am TV, als O.J. Simpson vor der Polizei floh, im weißen Ford Bronco, vielmehr eskortiert von etlichen Polizeifahrzeugen nachhause fuhr, statt sich, wie abgesprochen, wegen der Morde an zwei Menschen zu stellen. Dramatische Ereignisse, diesmal als erste live aus dem Hubschrauber gefilmte Straßenhatz. Alle Kanäle schalteten sofort ein. Das ganze im hier nochmals wärmstens empfohlenen Film ausführlich in aller Absurdität geschildert und zu sehen.

Der anschließende Prozess gegen O.J. wegen Mordes an seiner Exfrau und deren Freund nimmt im Grunde alles vorweg, was wir heute an verdrehtem Darsteller- und Selbstdarstellertum beobachten können. O.J. hat sich nie als Protagonist einer schwarzen Community verstanden. Punkt. Hätte er sollen? Warum? Er wollte Sportler sein und Werbeikone, Geld verdienen, wollte Schwein sein unter andern Schweinen. Warum nicht? Das nennt man Gleichberechtigung! Natürlich sind mir die Akteure nicht nur sympathischer, sondern auch im Herzen näher, die ihre Bühne nutzten und nutzen, um Ungerechtigkeiten zu benennen und damit auch persönliche Nachteile in Kauf nehmen. Aber: Die O.J.-Geschichte wurde völlig pervers an der Stelle, als die teuersten und besten Verteidiger in einem eigentlich glasklar rekonstruierbaren Indizienprozess den Angeklagten mit subtilen Botschaften zu einem Kämpfer und Märtyrer der schwarzen Menschenrechtsbewegung manövrierten. Die Geschicklichkeit, dieses bedachtsam und unter Aufwendung manipulativen Psychoterrors so zu steuern, daß bis heute befragte Geschworene darauf beharren, richtig entschieden zu haben…
Diese Geschicklichkeit finden wir heute bei den rechten, aber auch linken Karrieristen, die bereit sind, für Geld, Aufmerksamkeit, vor allem aber für ein Überlegenheitsgefühl jede echte Gefühlsregung, jedes echte Schicksal für das eigene Fortkommen auszunutzen.

Was bleibt übrig:
Verlorensein und Schalheit bei allen Betroffenen. Das Gefühl der Abnutzung der Begriffe, weil keiner mehr der eigenen Beobachtung traut. Ja, es gibt weiße Scheiße, aber auch schwarze Schweine. Dazwischen alle Grauzonen. Und in den Mühlen immer skrupellose Profiteure… Hier wie da.

Am Sonntag, 03.05.1992…
als alle Geschäfte verrammelt oder geplündert waren, vieles ausgebrannt und ich mit dem nunmehr in meinem Besitz befindlichen 79er Cadillac Seville, verwaschenes banana cream, vom Flughafen LAX, nach Verabschiedung Gero Gries, durch die Stadt zurückfuhr…
Ich nahm nicht den freeway. Ich fuhr durch ein desaströses South Central, durch Korea Town, wo nach dem Gottesdienst Menschen mit nagelneuen Besen Los Angeles symbolisch sauber fegten und gelangte am Sunset zum Headquarter von Scientology, wo jeder Stein blassblau bepinselt war und kilometerlang Einladungen zum „Clearing“ plakatiert waren.
Irgendwo auf dem Weg…
Das Radio war noch auf Geros Geschmack getunt…
Es lief „All you need is love“, Beatles.
Von links und rechts rollten Schützenpanzerwagen unter Getöse auf eine Kreuzung und schoben sich aneinander, die Gefechtsrohre kreuzend, vorbei…

Später fand ich einen Laden in Santa Monica, der geöffnet hatte. Dort kaufte ich einen kleinen Fernseher, den ich an diesem Abend anschaltete und erst zu meiner Abreise ein Jahr später wieder aus.

©else (Twin) Gabriel, 2017

sinnbälle florenz 1
„Etliche Sinnbälle“, Kugellampen mit Augenplot + Namen im blinden Fleck, 1991, hier gezeigt in Florenz, 1992, ©e.(Twin) Gabriel

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