Younger Than Jesus

für Ralf Ziervogel, anlässlich seiner Ausstellung in der St. Matthäus Kirche, Matthäikirchplatz, 10785 Berlin, Eröffnung am 23.02.2023, Laufzeit: 24.02. bis 07.04.2023

„Seltsamer und seltsamer!“ rief Alice.
„Jetzt öffne ich mich wie das größte Teleskop, das es je gab!
Auf Wiedersehen, Füße!“

Als Alice-im-Wunderland-Syndrom wird eine seltene psychiatrische Symptomgruppe bezeichnet, bestehend aus Derealisation, Depersonalisation, Spaltung von Körper und Psyche, Wahrnehmungsveränderungen oder Metamorphopsie, Schwebe-
gefühlen, Körperschemastörungen und Veränderungen des Zeitgefühls. Der Begriff wurde vom britischen Psychiater John Todd im Jahre 1955 eingeführt, in Anlehnung an Lewis Carolls Buch „Alice’s Adventures in Wonderland“.

Sprung

Ich hause nah am Tempelhofer Feld.
Die Substanz ist alt, die Rohrleitungen sind es auch.
Wann immer ich mich einer mies riechenden Verstopfung mit dem Pömpel annehmen muss, denke ich an die Reichshauptstadt Germania.
Als könnte die Saugglocke noch einen modrigen, zum deutschen Gruß gereckten Arm aus den Tiefen der Kanalisation ans Licht meiner Sanitärzelle fördern.
Wann immer ich das Flusensieb im Wäschetrockner lange vergesse, und sich darin etwas zusammenschiebt, das an die Berliner Philharmonie von Hans Scharoun erinnert, denk ich an kalten Krieg und dessen demonstrativ zur Schau gestellten architektonisch luftigen Schmiss und Schwung.

Denk ich an Deutschland in der Nacht, denk ich an Ralf Ziervogel.

Das würde ich jetzt eigentlich gern so stehenlassen…
„Zum Nachdenken anregen…!“

Aber ich bin ja hier, um „einzuführen“!
Sozusagen die Kanüle, mit der die Essenz der Ausstellung, subkutan verabreicht, ihre Wirkung entfalten kann.

Insofern bleibt mir nichts anderes übrig, als auszuholen.
Stellen wir uns vor, das Grauen hätte gesiegt und die Vorstellung deutscher Reinheit und Überlegenheit hätte sich durchgesetzt…
Wir stünden nicht hier.
Die meisten von uns würden vermutlich gar nicht existieren.
Aber angenommen, doch?
Wir stünden auf dem „Runden Platz“ auf der Nord-Süd-Achse der Reichshauptstadt Germania. 
Richtung Süden würden wir die schnurgerade 120 Meter breite Beutewaffenallee hinunterblicken, an deren Ende der Triumphbogen, 117 Meter hoch und 170 Meter breit… den Vorplatz zum Südbahnhof markierte. Es wäre nicht dieser heutige Südbahnhof mit seinen Überwachungskameras, nein. Ganz andere Dimensionen!
Richtung Norden sähen wir den Adolph-Hitler-Platz und das Wasserbecken, 400 x 1200 Meter, in dem sich die große Halle spiegelt, Kantenlänge 315 x 315 Meter, auf der Kuppel hockt ein gigantischer Adler, der die Weltkugel in den Klauen hält. Gesamthöhe 320 Meter.
Fassungsvermögen: 180.000 Menschen.
Die Kirche, in der wir hier stehen, wäre weg, bzw. in Spandau.
Abbruch, Verlegung, zack, zack.

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Irgendetwas von den Plänen hin zur Welthauptstadt schwingt in Berlin und hier an diesem Ort speziell, noch immer mit. Es ist der Tanzboden für Nationalgalerie, Staatsbibliothek, Philharmonie oder den Buddelkasten zum Museum des 20ten Jahrhunderts nebenan. Irgendwas zwischen Körperschemastörung, Schwebegefühl, Fiebertraum und Dauerstau…
Und dann steht hier eben doch noch, bzw. nach schweren Kriegsschäden wieder – diese schlichte neoromanische Kirche.

Und jetzt:
Younger than Jesus

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OMG! 
Machen wir uns nichts vor: Wir sind ALLE „Younger than Jesus“.
Gnade der späten Geburt, stupid? Egal, wie alt wir hier sind.
Ralf Ziervogel bezieht sich mit dem Titel auf eine Ausstellung 2009 im New Museum in New York. Ich hab mich durch den Text gequält zu dieser Ausstellung und das partizipatorische, gemeinschaftliche Prinzip der Auswahl der Künster und _innen, alle damals jünger als Jesus bei seinem – und das blieb unerwähnt: vorübergehenden – Tod, aus allen verfügbaren und noch nicht verbrauchten Ländern, stoße auf die Auswahl einiger der üblichen Verdächtigen…
Ralf war damals schon zu alt und unterließ, im Gegensatz zu einigen Streberinnen und Strebern, den Lebenslauf entsprechend zu frisieren.

Seit Jahren sind weite Teile des Kunstbetriebs in Dauerpassion und geradezu manisch damit beschäftigt, sich irgendwie zu reinigen von all dem üblen Erbe… Rassismus, Kolonialismus, toxisch-männliche Egozentrik und Deutungshoheit, Objektifizierung der Frau, Vernachlässigung von Minderheiten, etc.
Dieser Reinheitsgedanke bohrt sich wie ein Korkenzieher in die Produktions- und Ausstellungsstätten und führt zu großer Ängstlichkeit, das potentielle Publikum ja nicht zu erschrecken oder zu verstören. In der Folge gerät jede Ausstellung mit realen Kunstwerken unter den Generalverdacht des „Spektakels“.
So findet man sich heuer bei künstlerischen Großereignissen eher in Lesestuben, zwischen Erklärvideos und auf Sitzlandschaften wieder, wo man gemeinsam einsam ist. Man lernt sich kennen und ist fröhlich! In dieser speziellen Fröhlichkeit und überengagierten Aufgeräumtheit, die – man verzeihe hier an diesem Ort der Pastorentochter – vermutlich auf evangelischen Kirchentagen erfunden wurde und seitdem gnadenlos expandiert.
Auch wenn die mit der Verlagerung in künstlernde Communities einhergehende kollektive Verwaltung von Verantwortungslosigkeit weit fortgeschritten ist
– love you, documenta! – 
Ab und zu muss es doch mal wieder Kunst sein.

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Nichts an Ralf Ziervogels Kunst muss man entschlüsseln oder erklären.
Alles ist, was es ist, nichts anderes.
Und – logisch – immer auch genau das Gegenteil.
Ralf Ziervogel ist der unbestechlichste und genaueste Beobachter, den ich kenne. Er ist ein Künstler der Extreme. In seinen Produkten ist alles verstörend groß und winzig zugleich, manchmal unterhalb der Wahrnehmungsschwelle… jeder Fliegenschiß eine – mit Lupe lesbare – Verwünschung.
Ralf ist schwarz/weiß. Maximaler Kontrast. Die auf dem größten erhältlichen Papiermaß zusammendelirierten und akribisch ausgeführten Zeichnungen sind auf Entfernung von quasi maschinellem Ebenmaß oder als würden sich Eisenspäne um unsichtbare Magnete in Muster legen, und wirken wie astronomische Supernovae, die so weit entfernt sind, daß man sie nur durch Hochleistungsteleskope in Zahlenreihen auffangen kann und erst wieder rückübersetzen muss in Bilder…
Tritt man näher, wird alles Strafkolonie und Körper. Körperknäuel und Splitterbomben.
„Auf Wiedersehen, Füße!“
Auf jedem bezeichneten Quadratzentimeter finden sich ebenso komplexe wie verstörende Formeln für ganze Splattermovies, Liebeserklärungen in Form von Leberhaken oder depressionsfördernde Romanvorlagen.
Gleichzeitig ist das alles von so grundkomischer Leichtigkeit und Spielwut, daß man, selbst, wenn man meint, die eigene Moral geböte die Motivik abzulehnen, draufstarrt, wie auf eine große haarige Warze – total fasziniert.
Dazwischen viel Weiß.
Wie eine Umstülpung der dunklen Materie und schwarzen Leere des Weltraums, in dem wir als „Planet Winzling“ herumgondeln.

Das, was sonst noch ist?

Kanister, gefährlich edel, schwarz glänzend und mysteriös, ein Telefon, das, wie Thors Hammer, nicht anzuheben ist, geflügelte Wickelware, die sich am Rand des Taufbeckens besteigt… der Pate drückt ein Auge zu…, eingepacktes Inventar, Containercollies im Kirchenschiff der neverforgiven, nicht im Suezkanal gestrandet, sondern mitten in Berlin…
Resultate einer verspäteten Gütertrennung der Reichshauptstadt Germania von ihrem Führer.
Explosive Scheidungskinder und -kindeskinder.
Und ein nasser Fleck an der Wand.

Passionszeit.

Innehalten. Fasten. Bestandsaufnahme. Selbstreinigung.
Gestern, bei der Preview, wurde gefragt, wie sich eine Altarverhüllung für die Passionszeit mit der expliziten Bildwelt auf dem 30 Meter langen Banner verträgt.
Ich übersetze Ralfs Antwort in meine Worte: Eine Religion, deren zentrales Motiv ein Folter- und Mordinstrument ist – das Kreuz… und in deren Kirchen der gefolterte und ermordete Religionsstifter am Kreuz fast immer den Raum bestimmt… bekommt die ihr gemäße Hochzeitsschleppe.

Ziemlich am Ende seines langen Textes rund um Ralf Ziervogel in dessen großartigem Katalog „as if“ von 2019, schreibt Harald Falckenberg die anrührendsten und ehrlichsten Worte, die ich je in einem Aufsatz gelesen hab:
„Er mag mich wahrscheinlich nicht, ich ihn auch nicht sonderlich. Das verbindet uns.“

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Zum Glück bin ich nicht Harald Falckenberg.

Aber damit sind wir wieder bei Lewis Carolls Alice, deren ständige Veränderungen ihrer Ausdehnung zu immer neuen Konflikten mit immer wieder anders beleidigten Kreaturen führt… obwohl Alice im Wesen immer die gleiche bleibt.
Irgendwer ist immer auf der Palme oder auf der Kippe ganz oben im Turm…

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„Entweder war der Brunnen sehr tief, oder sie fiel sehr langsam, denn sie hatte beim Fallen viel Zeit sich umzusehen und sich zu fragen, was als Nächstes passieren würde.“ 

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credits:
Beitragsbild: Bildausschnitt Banner Ziervogel, Foto: ©else Gabriel
Bild 1: ©https://www.flickr.com/photos/gertrudk/21245077950
Bild 2: Bildausschnitt Ziervogel, Eskimolied, Bubble I, 2017, gouache and ink on paper, 10,2 x 7,1″
(26 x18cm), Foto: ©else Gabriel
Bild 3: Preview, 22.02.2023, Foto: ©else Gabriel
Bild 4: Ausstellungsaufbau Empore, Foto: ©else Gabriel
Bild 5: „Rear-End Collision Escobar“ (unauthorisierter Titel), Foto: ©else Gabriel
Bild 6: Ausstellungsdetail, Foto: ©else Gabriel
Bild 7: Ausstellungsdetail, Foto: ©else Gabriel
Bild 8: Ausstellungseröffnung, Foto: ©Andreas Rost
Bild 9: Ausstellungsdetail, Foto: ©else Gabriel

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