Stütze

Ein vor 15 Jahren entstandener Text. 2003, zwei Jahre vor der bildgebenden Fotoperformance „Prosoche“(2005).
Selbst als „White Trash“.

Prosoche ist die auf den Augenblick gerichtete innere Wachsamkeit, eine der stoischen Grundtugenden zur Beherrschung der Affekte. Dem (nächstliegenden) Schrecken präzise und meinungsfrei ins Auge zu blicken, war das Ziel der Handlung.
Ort: Rathaus Berlin Neukölln, vor Raum 112 – 120
Zeit, Freitag, 30.12.2005, 14:00 bis 18:00Uhr

Ungern zitiere ich mich selbst…
Man beachte aber den Satz:
„Wenn Frauen einen bestimmten Posten erklommen haben, hat sich dessen gesellschaftliches Ansehen ungefähr halbiert.“
Ich bitte um den Beweis des Gegenteils.

Auch zu beachten:
Das Anfangszitat stammt von einem biografisch höchst schillernden und in seinen Aussagen brutalen Typologen, Ernst Kretschmer. In dessen Werk findet sich manch Wahrheitsfunken, aber deutlich mehr bitter ernst gemeinte unfreiwillige Komik, die leider, insbesondere in deutscher Geschichte, nur zu gründlich umgesetzt wurde…

prosoche 15.36
Prosoche
Fotoperformance, 2005/2006
(Kamera: Wiebke Loeper)

STÜTZE

„(…) überströmende altruistische und metaphysische Empfindungen stehen dicht neben den schroffsten Selbstwerterhöhungstendenzen. Von seiten der elementaren Konstitutionsfaktoren ist die einfache Unterentwicklung mancher Triebstrukturen, die einfache echte Bedürfnislosigkeit bis zur autistisch indolenten Unsinnlichkeit ein disponierendes Moment. Endlich spielen (…) auch deutlich perverse Triebstrukturen mit herein: auf sexuellem Gebiet besonders schmerzsüchtige, im Gebiet des Nahrungstriebs und der übrigen Körpergemeingefühle offenbar ähnliche biologisch bedingte Perversionen, sonderbare Gelüste, wie wir sie anderwärts bei schwangeren Frauen oder bei Hysterischen sehen. So hat Frau DE LA MOTHE-GUYON, eine religiöse Sektenstifterin zur Zeit LUDWIGS XIV., schon in ihrer Jugend das Bedürfnis gehabt, das Erbrochene der von ihr verpflegten Kranken aufzuessen.
Die Liebe zum Kranken und Wunden, zum Verwahrlosesten, Schmutzigsten und Ekelerregendsten, ja zu Selbstqual und Märtyrertum wird bei derselben triebhaften Basis in leichten und gut kompensierten Graden aufopfernde soziale Höchstleistungen, in stärkeren Graden nutzloses mystisch-asketisches Spiel hervorbringen können, das trotz seiner religiösen Einkleidung sich nicht wesentlich von gewöhnlichen masochistischen und koprophilen Perversionen unterscheidet.(…)
Die innige Verschlingung bedeutender geistiger Impulse und religiös-organisatorischer Leistungen mit einem Rankenwerk aus derselben Triebwurzel aufschießender perverser Arabesken finden wir übrigens bis in die Neuzeit herein (…).“
(Ernst Kretschmer, Geniale Menschen, Berlin 1942)

prosoche 17.12

Aufgehen in der Gemeinschaft, im Sozialen – oder wie ein Hefekloß im Sozialamt. Ich habe immer wieder diese Vision: Ich sehe mich im Bezirksamt Neukölln auf einem dieser Flure sitzen. Auf einem Stahlrohrstuhl mit angebrochener orangefarbener Plastiksitzfläche. Die Beine streben nach außen, schon wenn sich jemand Normalgewichtiges darauf setzt. Der Boden ist gebohnert, aber schon wieder eingesaut von Gelatsche und Geschurre, verplempertem Kaffee und abgestürzter Copy-Info-Hilfs-Papier-Merk-Amts-Scheiße, die in diesem gestelzt anbiedernden Ton verfasst ist und da unten schon ganz gut liegt. Es riecht nach Heizungsmuff und nach aus dem Körperinneren Entwichenem. Die ausgeleierte Dauerwelle hängt mir in Strähnen auf die Schultern. Das gedunsene Gesicht ist absolut leer. Unfrische Züge. Ich brüte. Die Leistung besteht in der Erzeugung von Nachwuchs. Ist der erst mal da, müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden zur Werterhaltung. Da ist die Gesellschaft gefragt. An Wertsteigerung traut sich eh keiner zu denken. Jogginghose in Altrosa, weiße Sneaker mit abenteuerlichem Profil, allerdings schon angekaut vom Hund der Familie, einem breithüftigen Mischer aus Dogo Argentino und Mastino Napolitano, oder aus Huskie und Russki. Der weißliche Polyesterpulli mit Miezekatze drauf und ein paar mehr oder weniger ausgebrochenen Strasssteinchen ist unterm Arm stark aufgerubbelt und fadenscheinig. An der spillerigen Sportkarre hängt ein Einkaufsnetz mit ein paar Dosen Adelskrone und Miami-Zigaretten. Eine Packung Fruchtzwerge ist beim Versuch, sie rauszufingern, dem Ältesten weggeglitscht und auf dem Boden geborsten. Zum Glück haben wir ja den Hund mit. Wo soll der auch hin, wenn wir aufs Amt müssen. In der Wohnung bellt der doch die ganze Nachbarschaft zusammen. Die machen ja auch wegen jedem Scheiß ein Fass auf. Könnten sich ruhig mal an die eigene Nase fassen. Der Älteste plärrt ohrenbetäubend. Wenn dieses Gebläse angeht, verwittern selbst Amtsmauern schneller. Ja, der hört doch schwer und ist deshalb so ein Schreihals. Jetzt ist die kleine Leda-Janine aufgewacht und brüllt auch. Schnuller im Dreck. Erst mal eine rauchen. Ich habe so ein bestimmtes Körpergemeingefühl. Amts-Elses Bindegewebe hat eine Konsistenz wie das Weiße bei diesen besonders großen Pampelmusen – weichlich, schwammig, bitterlich. Wenn man die ausgefressene Schale noch ein bisschen liegen lässt, kann man mit dem Fingernagel eine Delle drücken, die bleibt. So kommen wir der Sache immer näher. Wenn Frauen einen bestimmten Posten erklommen haben, hat sich dessen gesellschaftliches Ansehen ungefähr halbiert. Mit der Demokratie ist es schon weit gekommen. Angela Merkel sagte am 06.04.03 im Interview der Woche im Deutschlandfunk: „Ich habe nur gesagt, dass der Krieg unvermeidbar war in dem Sinne, dass er offensichtlich nicht vermieden werden konnte und nun stattfindet.“ Danke. Es gibt ja mittlerweile viele Kathedralen der Neuzeit: Das Auto wurde so genannt, das Fußballstadion, bestimmte Zusammenkünfte zur Einnahme besonders lauter Unterhaltungsmusik. Und auch die gepoppte Neuköllnerin, unter ihrem bettlaken-nach-zwölf-wochen-benutzung-farbenen Ballonseidezelt, ist eine Kathedrale der Neuzeit. Das ist eine Karriere. Gute, alte, feuchte Biologie. Ich bin auf dem besten Wege, mich in so einer Figur zu verbarrikadieren. Ekellust. Ecclesiogene Neurosen bebildern…, Heiligenverehrung – verdrehte Augen, gereckte Gliedmaßen, konvulsivische Entleerungen, unreflektierte Erregung. Ich habe einen Fernsehbericht gesehen über einen Kapuzinermönch, der eine Nacht lang neben einem Penner an einer U-Bahn-Haltestelle saß und ihm die Bierdose festhielt, damit sie nicht umfiel. Wir sind schon tiefer in einem neuen Mittelalter, als wir wahrhaben wollen. Die Unübersichtlichkeit, die Willkür der Wahrheit, eine eigenartige Askese im Überfluss. Die Zeitinsassen fühlen sich enorm individuell, sehen aber interessanterweise doch sehr gleich aus. Die Genügsamkeit, unter all den Millionen Möglichkeiten die nächstliegende zu nutzen, ist schon erstaunlich. Dazu noch das Computerzölibat. Die eine Hälfte der Neuköllner Schwervermittelbaren säuft Bier vorm Amt und schnauzt sich gegenseitig voll, die andere Hälfte hökert bei e-bay. Kontemplation. „Convoy Frustration“. Das Bedürfnis, so etwas zu produzieren, was wir heute unter zeitgenössischer Kunst verstehen, wird eines Tages als Stoffwechselstörung diagnostiziert werden können. Das soziale Zentrum hat man im Stirnlappen, Lobus frontalis, gefunden. Da wird es wohl auch einen Lappen für die Kunst geben. Und diesen Drall wird man mit so einer Art Lackmustest schon kurz nach der Geburt feststellen können und die Möglichkeit haben, mit einer bestimmten Diät entgegenzuwirken. Das „Betriebssystem Kunst“ wird unter diesem Schwund kaum leiden. Hier lebt man ohnehin von der Substanz. Übrigens hat man kürzlich sechs neue Jupitermonde entdeckt. Jetzt hat der große Gasplanet 58 davon. Ich bin ein großer Gasplanet. Mein Hirn ist eine fragmentierte Festplatte. Aus tausend Schubladen rutscht was raus und die Teile wollen nicht zusammenpassen. Dagegen hilft nur etwas Reines: z. B. Mathematik. Das „Sieb des Eratosthenes“. „Pentathlos“, der Fünfkämpfer, oder auch „Beta“ Eratosthenes, der ewige zweite, der sich für alles interessierte, der alles anfing, und der nirgendwo die Weltspitze der Welt von vor ungefähr 2200 Jahren erreichte. Ihm zu Ehren und mithilfe seines „Siebes des Eratosthenes“ zähle ich jetzt ein paar Primzahlen aus. Und hier das Rezept:
Man schreibe alle Zahlen von 2 bis N (etwa N = 100 000) auf.
Man rahme die Zahl 2 ein und streiche dann jede zweite Zahl.
Ist n die erste nicht gestrichene Zahl, so rahme man n ein und streiche jede n-te Zahl.
Man führe Schritt 3 für alle n mit n2 ≤ N aus; ist n2 > N, so stoppe man den Prozess.
Alle eingerahmten bzw. nicht gestrichenen Zahlen sind Primzahlen.

else Gabriel, Berlin im April 2003

Für den Katalog zur Ausstellung „double bind Kunst Kinder Karriere“
Idee und Konzept: Signe Theill

2003 Künstlerhaus Bethanien

Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds

http://www.doublebind.de

Übernahmen der Ausstellung:

2004 Paula Modersohn Becker-Museum, Bremen

2005 Noosa Regional Gallery, Noosa, Australien

2006 Athens University Art Gallery, Ohio, USA (Teilübernahme)

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